Die Farben grau
Drei Stimmen aus sechs Fernsehern sprachen einen dissonanten Kanon.
Vier Bildschirme flimmerten waberndes Grau in den düsteren
Flur. Es war früher Nachmittag.
Er saß auf dem Boden im Flur
und malte. Sie wollte kommen und ihn zu einem Spaziergang abholen.
Aber das konnte dauern, dachte er. Solange wollte er malen. Er bemalte
einen Fleck der Wand neben der Tür zur Küche. Ungefähr
auf den Höhe der Türklinke. Mit dem heutigen Grau war
er sehr zufrieden. Er malte Bögen und Punkte, durchbrach Bögen
mit neuen Bögen und setzte Punkte dazwischen.
Seine Wohnung war exakt quadratisch.
Das heißt, wenn man sich die Zwischenwände wegdachte,
natürlich. Quadratisch wie alle Wohnungen in der Zeile, schätzte
er. Schätzen, das wußte er, war nicht gerade seine Stärke,
und eine andere Wohnung hatte er nie betreten. Aber warum sollten
die anderen Wohnungen nicht quadratisch sein. Quadratisch und grau.
Doch, er hatte eine andere Wohnung
betreten, oft sogar. Ihre Wohnung. Ihre Wohnung war grau, genau
wie seine. Ob sie quadratisch war, konnte er nicht sagen. Sicher,
er war oft bei ihr gewesen. Aber die Räume waren ganz anders
geschnitten als in seiner Wohnung. Vielleicht war sie letztlich
sogar quadra-tisch, was spielte das für eine Rolle. Sie war
grau, immerhin.
Kein Besucher wäre darauf gekommen,
daß seine Wohnung quadratisch war, dachte er. Er konnte den
Anflug eines Lächelns nicht unterdrücken. Der Gedanke,
daß ihn jemand besuchen könnte ... Natürlich, sie
besuchte ihn oft. Aber sie war kein Besucher. Sie war ein Teil der
Wohnung. Nicht so wie das Bett oder der Spültisch, nein, das
nicht. Anders. Oft war sie einfach da. Sie saß oder stand,
sagte etwas oder war still. Wenn sie da war, schwappte etwas von
ihrer Welt in das Grau. Nichts, worauf er mit dem Finger hätte
zeigen können. Nichts Greifbares. Etwas.
Das vielschichtige Grau der Wände
in den drei genau gleich großen Räumen wäre durch
sie ein bißchen farbiger geworden, dachte er. Aus zwei Grau
konnte sie eine Farbe mischen. In ihrer Welt. Ein neues Grau. Er
strahlte in den leeren Raum.
Sein Leben verbrachte er damit,
seine Zimmer zu bemalen. Das war seine Welt. Er war stolz auf die
Vielfalt, auf das Spektrum, das er dem Grau abgerungen hatte. Jeden
Tag das gleiche Ritual. Nicht jeden Tag zur selben Zeit, das nicht.
Wenn Zeit war eben. Aber er war sicher, daß er keinen Tag
ausgelassen hatte, soweit seine Erinnerung reichte.
Er ging dann aus seinem schlauchförmigen
Schlafzimmer mit dem Bett, das an einem Ende der Raumes fast ein
Drittel der Fläche einnahm, durch die Tür in der Mitte
der rechten Längswand in den schlauchförmigen Flur mit
der Eingangstür an einer der Stirnseiten. Er ging geradeaus
über den Flur ( genau zwei Schritte waren das, er wußte
es ohne zu schätzen ) und trat durch die Tür in der Mitte
der rechten Längswand des Flures in die schlauchförmige
Küche.
Gegenüber der Tür an der
rechten Längswand der Küche befanden sich zwei Fernseher.
Gleiches Fabrikat, gleiche Größe, schwarzweiß.
Ohnehin sendeten sie nur schwarzweiß. Er hatte zwei Fernseher
in jedem Zimmer. Man mußte informiert bleiben, davon war er
überzeugt. Ohnehin strahlten sie nur drei Programme aus. Er
zumindest konnte nur drei empfangen. Er hatte ein ausgeklügeltes
System entwickelt, das ihm ermöglichte, die Geschehnisse fast
lückenlos im Auge zu behalten. In der Küche standen die
Fernseher nebeneinander gegenüber der Tür. Die Fernseher
im Flur standen an der schmalen Seite des Raumes gegenüber
der Eingangstür. Auch im Schlafzimmer standen die Fernseher
an der schmalen Seite gegenüber vom Bett. An manchen Tagen,
wenn es das schmierige Licht durch das Fenster über dem Bett
bis in den Raum schaffte, mußte er den grauen Vorhang vorziehen.
Licht machte es fast unmöglich, vom Bett aus auf den alten
Geräten irgend etwas zu erkennen. Und man mußte ja informiert
bleiben.
Letztlich war es meistens der unwiderstehliche
Reiz der Graustufen, der ihn aus dem Bett holte. Dann ging er in
die Küche, öffnete das Schränkchen unterhalb der
winzigen Spüle unter dem Fenster und nahm die Pinsel und den
Gips heraus. Außerdem entschied er sich für eine oder
zwei aus der Hundertschaft von Kleinigkeiten, die er dort verstaut
hatte. Das waren Dinge, die er bei ihren Spaziergängen aufgesammelt
hatte. Ein Steinchen hier, ein Strunk vertrocknetes Gras da, dort
vielleicht eine Handvoll Erde. Er ging dann mit den Pinseln, dem
Gips und dem Objekt seiner Wahl zur Dusche, die an der anderen Stirnseite
der Küche eingelassen war. In der winzigen Spüle mit den
zwei Kochplatten gab es schon lange kein Wasser mehr. Er ließ
Wasser in das Fußbecken laufen, schüttete Gipspulver
hinein und rührte die zermahlenen Überreste vom Fund des
Tages dazu. Manche Sachen konnte er einfach mit der Hand zerbröseln.
Manche kriegte er mit den Sohlen seiner Schuhe klein. Bei manchen
benutzte er die Ecke der Küche neben der Dusche als Widerstand
und pickte so lange mit dem Stiel eines dicken Pinsels darauf herum,
bis es irgendwann auseinanderfiel. Erfahrungsgemäß kriegte
er alles irgendwann klein. Dann rührte er es in die Gipsbrühe.
Das Ergebnis war immer grau. Keiner
außer ihm wußte, wieviel in dem oberflächlichen
Begriff GRAU steckte. Er hatte viele Farben Grau gesehen. Besser,
er hatte sie gemacht. Matte und leuchtende. Silbrig helle und schwärzliche,
die ihre grauen Pigmente kaum noch preisgaben. Dicke pampige, die
sich wie Gummi auf dem Pinsel ausbreiteten und schlierige durchscheinende,
wie altes Öl auf den Fingerkuppen.
Er nahm eine alte Plastiktasse mit
abgebrochenem Henkel ( immer dieselbe ), schöpfte mit ihr das
Grau des Tages, setzte sich an einer Stelle auf den Boden und malte
weiter an seiner Wand. In welchem Raum war ihm egal. Wonach ihm
eben gerade war. Schlafzimmer, Flur, Küche. Er malte schon
lange. Freie Stellen gab es trotzdem genug. Er mußte nie suchen.
Die Flächen hinter den Fernsehern ließ er aus. Um Feinarbeiten
wollte er sich später kümmern. Irgendwann.
Doch, wenn er es sich genau überlegte,
hatte er eine Lieblingsstelle. Er saß gerne im Flur zwischen
den beiden Türen zum Schlafzimmer und zur Küche. Die Bemalung
der Wand rund um beide Türrahmen, die er in dem schmalen Raum
problemlos im Sitzen erreichen konnte, war konsequenterweise am
weitesten fortgeschritten. Der Platz hatte seine Vorteile. Man konnte
von dort die beiden Fernseher im Flur ebenso im Blickfeld behalten
wie durch die geöffnete Tür die beiden in der Küche.
Nach einem genau kalkulierten System konnte er so alle drei Programme
gleichzeitig sehen. Eines sogar doppelt. Im Flur war das das Dritte,
das mochte er am meisten. In seinem Schlafzimmer ( wo er vom Bett
aus mittels eines an der nach innen öffnenden Tür angebrachten
Spiegels die Fernseher im Flur sehen konnte ) gab es die Kanäle
Eins und Zwei, im Flur Zwei und Drei und in der Küche Drei
und Eins.
So saß er oft zwischen den
Türen auf dem Flur, sah fern und malte. Das Malen ging ihm
leicht von der Hand. Er hatte wenig Fantasie. Er malte Flächen
und Formen, was ihm eben gerade einfiel. Manchmal malte er mit langsamen
Bewegungen einfach eine kleine Fläche aus. Dann sah er wieder
fern. Manchmal füllte er ein Stück mit so kleinen Ornamenten,
daß noch nach Stunden kaum etwas zu sehen war.
<Du mußt Bilder malen>,
sagte sie gelegentlich, wenn sie kam und er malte.
<Mal etwas, was man erkennen
kann>, sagte sie dann, <mal ein Tier oder so>.
Aber was wußte sie.
Er malte einen zarten Bogen in lichtem
Felsgrau. Ein kurzer Blick auf einen der Bildschirme, dann setzte
er einen breiten Punkt unter den Bogen.
Es klopfte.
|