1 Der schwarze Walfisch  
  2 Die Spinne  
  3 Die Farben grau  
  4 Der Vorname von Gelb  
  5 Der Hund  
  6 Brückenzoll  
  7 Transeamus  
  8 Rot  
  9 Gelb  
  10 Grau  
   
  Farben publiziert? verlegt von Edition XIM Virgines  
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Die Farben grau


Drei Stimmen aus sechs Fernsehern sprachen einen dissonanten Kanon. Vier Bildschirme flimmerten waberndes Grau in den düsteren Flur. Es war früher Nachmittag.

Er saß auf dem Boden im Flur und malte. Sie wollte kommen und ihn zu einem Spaziergang abholen. Aber das konnte dauern, dachte er. Solange wollte er malen. Er bemalte einen Fleck der Wand neben der Tür zur Küche. Ungefähr auf den Höhe der Türklinke. Mit dem heutigen Grau war er sehr zufrieden. Er malte Bögen und Punkte, durchbrach Bögen mit neuen Bögen und setzte Punkte dazwischen.

Seine Wohnung war exakt quadratisch. Das heißt, wenn man sich die Zwischenwände wegdachte, natürlich. Quadratisch wie alle Wohnungen in der Zeile, schätzte er. Schätzen, das wußte er, war nicht gerade seine Stärke, und eine andere Wohnung hatte er nie betreten. Aber warum sollten die anderen Wohnungen nicht quadratisch sein. Quadratisch und grau.

Doch, er hatte eine andere Wohnung betreten, oft sogar. Ihre Wohnung. Ihre Wohnung war grau, genau wie seine. Ob sie quadratisch war, konnte er nicht sagen. Sicher, er war oft bei ihr gewesen. Aber die Räume waren ganz anders geschnitten als in seiner Wohnung. Vielleicht war sie letztlich sogar quadra-tisch, was spielte das für eine Rolle. Sie war grau, immerhin.

Kein Besucher wäre darauf gekommen, daß seine Wohnung quadratisch war, dachte er. Er konnte den Anflug eines Lächelns nicht unterdrücken. Der Gedanke, daß ihn jemand besuchen könnte ... Natürlich, sie besuchte ihn oft. Aber sie war kein Besucher. Sie war ein Teil der Wohnung. Nicht so wie das Bett oder der Spültisch, nein, das nicht. Anders. Oft war sie einfach da. Sie saß oder stand, sagte etwas oder war still. Wenn sie da war, schwappte etwas von ihrer Welt in das Grau. Nichts, worauf er mit dem Finger hätte zeigen können. Nichts Greifbares. Etwas.

Das vielschichtige Grau der Wände in den drei genau gleich großen Räumen wäre durch sie ein bißchen farbiger geworden, dachte er. Aus zwei Grau konnte sie eine Farbe mischen. In ihrer Welt. Ein neues Grau. Er strahlte in den leeren Raum.

Sein Leben verbrachte er damit, seine Zimmer zu bemalen. Das war seine Welt. Er war stolz auf die Vielfalt, auf das Spektrum, das er dem Grau abgerungen hatte. Jeden Tag das gleiche Ritual. Nicht jeden Tag zur selben Zeit, das nicht. Wenn Zeit war eben. Aber er war sicher, daß er keinen Tag ausgelassen hatte, soweit seine Erinnerung reichte.

Er ging dann aus seinem schlauchförmigen Schlafzimmer mit dem Bett, das an einem Ende der Raumes fast ein Drittel der Fläche einnahm, durch die Tür in der Mitte der rechten Längswand in den schlauchförmigen Flur mit der Eingangstür an einer der Stirnseiten. Er ging geradeaus über den Flur ( genau zwei Schritte waren das, er wußte es ohne zu schätzen ) und trat durch die Tür in der Mitte der rechten Längswand des Flures in die schlauchförmige Küche.

Gegenüber der Tür an der rechten Längswand der Küche befanden sich zwei Fernseher. Gleiches Fabrikat, gleiche Größe, schwarzweiß. Ohnehin sendeten sie nur schwarzweiß. Er hatte zwei Fernseher in jedem Zimmer. Man mußte informiert bleiben, davon war er überzeugt. Ohnehin strahlten sie nur drei Programme aus. Er zumindest konnte nur drei empfangen. Er hatte ein ausgeklügeltes System entwickelt, das ihm ermöglichte, die Geschehnisse fast lückenlos im Auge zu behalten. In der Küche standen die Fernseher nebeneinander gegenüber der Tür. Die Fernseher im Flur standen an der schmalen Seite des Raumes gegenüber der Eingangstür. Auch im Schlafzimmer standen die Fernseher an der schmalen Seite gegenüber vom Bett. An manchen Tagen, wenn es das schmierige Licht durch das Fenster über dem Bett bis in den Raum schaffte, mußte er den grauen Vorhang vorziehen. Licht machte es fast unmöglich, vom Bett aus auf den alten Geräten irgend etwas zu erkennen. Und man mußte ja informiert bleiben.

Letztlich war es meistens der unwiderstehliche Reiz der Graustufen, der ihn aus dem Bett holte. Dann ging er in die Küche, öffnete das Schränkchen unterhalb der winzigen Spüle unter dem Fenster und nahm die Pinsel und den Gips heraus. Außerdem entschied er sich für eine oder zwei aus der Hundertschaft von Kleinigkeiten, die er dort verstaut hatte. Das waren Dinge, die er bei ihren Spaziergängen aufgesammelt hatte. Ein Steinchen hier, ein Strunk vertrocknetes Gras da, dort vielleicht eine Handvoll Erde. Er ging dann mit den Pinseln, dem Gips und dem Objekt seiner Wahl zur Dusche, die an der anderen Stirnseite der Küche eingelassen war. In der winzigen Spüle mit den zwei Kochplatten gab es schon lange kein Wasser mehr. Er ließ Wasser in das Fußbecken laufen, schüttete Gipspulver hinein und rührte die zermahlenen Überreste vom Fund des Tages dazu. Manche Sachen konnte er einfach mit der Hand zerbröseln. Manche kriegte er mit den Sohlen seiner Schuhe klein. Bei manchen benutzte er die Ecke der Küche neben der Dusche als Widerstand und pickte so lange mit dem Stiel eines dicken Pinsels darauf herum, bis es irgendwann auseinanderfiel. Erfahrungsgemäß kriegte er alles irgendwann klein. Dann rührte er es in die Gipsbrühe.

Das Ergebnis war immer grau. Keiner außer ihm wußte, wieviel in dem oberflächlichen Begriff GRAU steckte. Er hatte viele Farben Grau gesehen. Besser, er hatte sie gemacht. Matte und leuchtende. Silbrig helle und schwärzliche, die ihre grauen Pigmente kaum noch preisgaben. Dicke pampige, die sich wie Gummi auf dem Pinsel ausbreiteten und schlierige durchscheinende, wie altes Öl auf den Fingerkuppen.

Er nahm eine alte Plastiktasse mit abgebrochenem Henkel ( immer dieselbe ), schöpfte mit ihr das Grau des Tages, setzte sich an einer Stelle auf den Boden und malte weiter an seiner Wand. In welchem Raum war ihm egal. Wonach ihm eben gerade war. Schlafzimmer, Flur, Küche. Er malte schon lange. Freie Stellen gab es trotzdem genug. Er mußte nie suchen. Die Flächen hinter den Fernsehern ließ er aus. Um Feinarbeiten wollte er sich später kümmern. Irgendwann.

Doch, wenn er es sich genau überlegte, hatte er eine Lieblingsstelle. Er saß gerne im Flur zwischen den beiden Türen zum Schlafzimmer und zur Küche. Die Bemalung der Wand rund um beide Türrahmen, die er in dem schmalen Raum problemlos im Sitzen erreichen konnte, war konsequenterweise am weitesten fortgeschritten. Der Platz hatte seine Vorteile. Man konnte von dort die beiden Fernseher im Flur ebenso im Blickfeld behalten wie durch die geöffnete Tür die beiden in der Küche. Nach einem genau kalkulierten System konnte er so alle drei Programme gleichzeitig sehen. Eines sogar doppelt. Im Flur war das das Dritte, das mochte er am meisten. In seinem Schlafzimmer ( wo er vom Bett aus mittels eines an der nach innen öffnenden Tür angebrachten Spiegels die Fernseher im Flur sehen konnte ) gab es die Kanäle Eins und Zwei, im Flur Zwei und Drei und in der Küche Drei und Eins.

So saß er oft zwischen den Türen auf dem Flur, sah fern und malte. Das Malen ging ihm leicht von der Hand. Er hatte wenig Fantasie. Er malte Flächen und Formen, was ihm eben gerade einfiel. Manchmal malte er mit langsamen Bewegungen einfach eine kleine Fläche aus. Dann sah er wieder fern. Manchmal füllte er ein Stück mit so kleinen Ornamenten, daß noch nach Stunden kaum etwas zu sehen war.

<Du mußt Bilder malen>, sagte sie gelegentlich, wenn sie kam und er malte.

<Mal etwas, was man erkennen kann>, sagte sie dann, <mal ein Tier oder so>.

Aber was wußte sie.

Er malte einen zarten Bogen in lichtem Felsgrau. Ein kurzer Blick auf einen der Bildschirme, dann setzte er einen breiten Punkt unter den Bogen.

Es klopfte.